Kirchenasyl: Widerstand im Rechtsstaat

Am letzten Freitag trafen sich auf Einladung des «netzwerk migrationscharta.ch» hundertdreissig Engagierte aus der ganzen Schweiz im Offenen St. Jakob zu einer Tagung zum Thema Kirchenasyl. Pfarrer:innen und Aktivist:innen aus der Schweiz und Deutschland berichteten über Notwendigkeit, Ziele und Erfahrungen mit diesem seit Jahrhunderten in vielen Kulturen verankerten Rechtsgut und über dessen unterschiedliche Anerkennung in Deutschland und der Schweiz.

Dass Flüchtende an heiligen Orten vor Verfolgung geschützt sind, kannten bis ins 18. Jahrhundert fast alle Gesellschaften. Mit dem systematischen Ausbau des säkularen Rechtsstaates und dessen umfassendem Hoheitsanspruch haben die religiös begründeten Fluchtorte ihre Anerkennung verloren. Wenn sich heute in den USA und zunehmend auch in Europa Städte als «Sanctuary City» bezeichnen, so berufen sie sich auf die Not-Wendigkeit – im wahren Sinne dieses Begriffs –, auch im Rechtsstaat Widerstand gegen menschenunwürdige Härten zu leisten. Mit dem Projekt «Züri City Card – ein Stadtausweis für alle», das das Alltagsleben von Sans-Papiers erleichtern will und das letztes Jahr an der Urne angenommen wurde, soll auch Zürich einen Schritt in Richtung Sanctuary City machen.

Ein dramatisches Beispiel

Aus meiner Zeit als Kirchenpfleger der damals noch selbstständigen Kirchgemeinde Aussersihl erinnere ich mich an eine dramatische Asylgeschichte, die exemplarisch Möglichkeiten und Grenzen von «Kirchenasyl» zeigt, einem Handlungsbereich, den es aus Behördensicht gar nicht geben dürfte. Eine im siebten Monat schwangere junge Mutter, geflohen aus einem afrikanischen Land, sollte als «Dublin-Fall» samt ihrem Kleinkind nach Italien, ins Ersteinreiseland, abgeschoben werden. Die Chefärztin der Gynäkologie im Stadtspital stellte in einem Gutachten fest, ihrer Patientin sei eine Abschiebung aus medizinischer Sicht nicht zumutbar. Zudem sei das italienische Asylsystem nicht in der Lage, sie und ihr Kind angemessen unterzubringen und medizinisch zu versorgen. Entgegen diesem fachärztlichen Gutachten entschied der polnische Arzt der vom Migrationsamt beauftragten Firma Oseara, Frau und Kleinkind seien die Ausschaffung nach Italien zumutbar – was dann auch gleich vollzogen wurde. Die junge Mutter, nun kurz vor dem Geburtstermin, kehrte illegal in die Schweiz zurück, meldete sich erneut bei den Behörden und wurde in eine abgelegene Asylunterkunft oberhalb eines kleinen Bergdorfs geschickt, damals im Januar tief verschneit. Verständlich, dass sie von da nach Zürich zurückkehrte und sich an Verena Mühle­thaler, Pfarrerin am St. Jakob und Mitinitiantin der Tagung, wandte. Die Kirchgemeinde gewährte der Frau Unterstützung gegenüber den Behörden und Unterkunft im Kirchgemeindehaus, wo sie dann auch beim kantonalen Migrationsamt angemeldet wurde.

Ausgerechnet in jenen Tagen wurde in den Medien bekannt, dass die Firma Oseara für jeden positiven Rückschaffungsentscheid eine Zusatzprämie von 1000 Franken erhielt, die dort tätigen Ärzte aber über keine in der Schweiz gültige Berufsausübungsbewilligung verfügten. Ich wandte mich daraufhin an die damals für das Asylwesen zuständige Bundesrätin Sommaruga und forderte sie auf, in diesem – meines Erachtens – krassen Fall sofort Zugang zum Asylverfahren in der Schweiz zu gewähren, den Vertrag mit der Firma Oseara zu kündigen und die «Erfolgsprämien» abzuschaffen. Simonetta Sommaruga legte in ihrem Antwortschreiben ausführlich dar, dass eine Abweichung vom Dublinverfahren auch in diesem Falle nicht möglich sei. Zum Schluss bedankte sie sich bei der Kirchgemeinde «für ihr grosses Engagement».

Das Dossier der bei uns untergekommenen Frau und ihren Kindern blieb dann so lange liegen, dass die Dublinfrist von sechs Monaten Aufenthalt erreicht und auf ihr Asylgesuch eingetreten wurde. Die kleine Familie lebt heute noch in der Schweiz, das ältere Kind besucht die Schule.  

Das Wächteramt der Kirche

An der Tagung der Migrationscharta nahmen theologisch, juristisch und dank ihrer Praxis erfahrene Aktivist:innen die Kirchen in die Pflicht. Sowohl im Alten wie im Neuen Testament fordere die Bibel Fremdenliebe. Die reformierte Kirchenordnung des Kantons Zürich postuliere ein «Wächteramt», das die Kirche gegenüber dem Rechtsstaat wahrzunehmen habe. Der emeritierte Theologieprofessor Pierre Bühler ist überzeugt: Nicht nur als Mahnende, sondern auch als Handelnde, wenn es sein muss mit «zivilem Ungehorsam». Dieser Begriff geht auf einen Essay des amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau von 1849 zurück, in dem Ungehorsam gegen den Staat dann als Pflicht bezeichnet wird, wenn die Rechtspraxis grundlegende Rechtsprinzipien verletzt. Bühler legte dar, dem Kirchenasyl fehle in der heutigen Gesetzgebung zwar die Legalität, es sei aber legitim, dem «Rad des (unmenschlich handelnden) Staates in die Speichen zu greifen» (Dietrich Bonhoeffer). Wer seinen Gehorsam gegenüber dem Staat mit Rücksicht auf das eigene Gewissen reflektiere, nehme damit eine kritische Loyalität gegenüber dem Rechtsstaat wahr, die mithelfe, systemische Härten und Widersprüche zu Grundrechten aufzudecken und so den Rechtsstaat weiter zu entwickeln. Der amerikanische Philosoph John Rawls (1921-2002) postuliert in seiner «Theorie der Gerechtigkeit», ziviler Ungehorsam stabilisiere den Rechtsstaat durch den gesellschaftlich notwendigen Diskurs über Gerechtigkeit.

Erfahrungen mit Kirchenasyl in den letzten 50 Jahren

Der Berner Pfarrer Jacob Schädelin erinnerte in seinem Referat an vergangene Kirchenasyl-Aktionen in der Schweiz: 1973 bot die Kirchgemeinde Seebach chilenischen Flüchtlingen Asyl und stellte sich damit in Widerspruch zu Bundesrätin Elisabeth Kopp und ihrem Flüchtlingsdelegierten Peter Arbenz. Mit Erfolg: Alle konnten bleiben, aber der Seebacher Pfarrer wurde später wegen dieser Aktion abgewählt. Seebach war übrigens jene Kirchgemeinde, in der 1937 Pfarrer Paul Vogt eine Anlaufstelle für Verfolgte aus Nazi-Deutschland eröffnete, die Freiplatzaktion gründete und sich damit mutig gegen die restriktive Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs stellte. 1986 will Peter Arbenz im Kanton Bern vierzig tamilische Flüchtlinge ausschaffen. Schädelin macht einen Aufruf, Betroffene privat aufzunehmen. Acht Kirchgemeinden machen mit, vierzig weitere solidarisieren sich mit der Aktion, die sogar von den Berner Kantonalbehörden gutgeheissen wird; sie stellen sich gegen die Entscheide von Kopp. Schädelin wird angeklagt, landet in Untersuchungshaft, wird dann aber freigesprochen. Er misst dem Gerichtsverfahren eine wichtige Bedeutung für die Öffentlichkeitsarbeit zu.  

Kirchenasyl in Deutschland

Ulrike La Gro, Leiterin der «ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche» berichtete über die erstaunliche Zunahme von Kirchenasyl-Aktionen in Deutschland. Sie nahmen ihren Anfang 1983, als der türkische Flüchtling Kemal Altun während eines Gerichtsverfahrens in Berlin, das seine Abschiebung in die Türkei beschloss, aus dem Fenster in den Tod sprang. Das landesweite Entsetzen mobilisierte Kirchgemeinden beider Konfessionen; mit «Wanderasyl» wurden mehrere hundert von Ausschaffung bedrohte Flüchtlinge in Kirchenräumen beherbergt und in breit unterstützten Demonstrationszügen von einer zur andern solidarischen Kirche begleitet. Aktuell weiss die Arbeitsgemeinschaft von 1300 Kirchenasyl-Fällen. La Gro findet gut, dass es kein «Kirchenasyl-Gesetz» gebe: Die Aktionen  müssen immer situativ gestaltet und von der Kirchenbasis mitgetragen werden.

Rechtliche Aspekte und organisatorische Empfehlungen 

Die Anwältin Stephanie Motz, Spezialistin für Migrations- und Strafrecht mit Erfahrungen  in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem UNO-Menschenrechtsausschuss, hält in ihrem Referat ernüchtert fest: Im allgemeinen Strafrecht gelte «In dubio pro reo»  (Im Zweifel für den Angeklagten), im Asylbereich gelte hingegen «In dubio pro dubio»: Im Zweifelsfall wird ausgeschafft. Sie unterscheidet «Stilles» und «Öffentliches» Kirchenasyl: Während öffentliches Asyl eine solidarische Bewegung auslösen und so Druck auf die zuständigen Stellen schaffen will, werden beim «stillen» Asyl die zuständigen Behörden informiert, wird mit ihnen verhandelt und kann so im Einzelfall eine stillschweigende Lösung erreicht werden. Asylsuchenden wird während des Verfahrens eine Unterkunft zugewiesen. Ein Ausweichen an eine andere Adresse kann bestraft werden; wenn diese Adresse aber den Behörden bekannt gemacht wird, darf die Asylsuchende nicht als «untergetaucht» klassifiziert werden. Dies ist wichtig, denn für «Untergetauchte» gilt nicht die sonst übliche 6-Monatsfrist, sondern eine 18-monatige Frist, bis ein Verfahren in der Schweiz aufgenommen wird; während dieser langen Frist wird gemäss Dublinabkommen ins Erstasylland ausgeschafft. HelferInnen machen sich nur strafbar, wenn sie aktiv Asylsuchende verstecken.

Das Netzwerk Migrationscharta hat für die Tagung eine ausführliche «Checkliste Kirchenasyl» vorbereitet. Vor Proklamation eines Kirchenasyls sollen alle bestehenden rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Die von Ausschaffung Bedrohten sind über Risiken, die beschränkten Chancen, ihre Abhängigkeit von der Hilfe anderer zu informieren. Im Voraus muss über «stilles» oder «öffentliches» Asyl entschieden werden. Die kirchlichen und zuständigen staatlichen Behörden sind mit eingeschriebenem Brief zu informieren. Personell braucht es klare Aufgabenverteilung und einen auch für eine längere Phase tragfähigen Kreis von Unterstützenden.

Rechte Stryter Christi sind, die sich nit schämend, ob inen der Kopf zerknütscht wirt,

behauptet der Reformator Zwingli. In der christlichen Botschaft, auf die sich die Kirchen beziehen, nehmen Nächsten- und Fremdenliebe eine zentrale Stellung ein. Müsste man da nicht meinen, für «Stryter Christi» seien Solidarität mit und tatkräftige Unterstützung von Menschen in Not das eine – öffentlicher Positionsbezug für Menschenrechte und Völkerrecht das andere? Als im Herbst 2018 die «Sebstbestimmungsinitiative» der SVP zur Abstimmung kam, mit der dank absolutem Vorrang der Bundesverfassung die Geltung des Völkerrechts und die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention geschwächt werden sollten, hisste die Kirchgemeinde Aussersihl mit Unterstützung schwindelfreier Greenpeace-Aktivist:innen am Kirchturm von St. Jakob ein riesiges Transparent: «Weil Menschen Rechte brauchen – Nein zur Selbstbestimmungsinitiative.»

Diese prominent-öffentliche politische Stellungnahme trug der Kirchenpflege nicht nur einen Einspruch der Polizei wegen Gefährdung durch Ablenkung der Verkehrsteilnehmer ein, sondern auch eine Rüge des damaligen Kirchenratspräsidenten wegen Einmischung der Kirche in den politischen Prozess. Mit Berufung auf das kirchenordnungsgemässe «Wächteramt» verteidigten wir unseren Positionsbezug, nicht als Widerstand gegen den Rechtsstaat, sondern als notwendigen Widerstand im Rechtsstaat. 

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